01.03.2014, 22:21
W4E Biografien - Raoul le Boucher
Man sah ihn als Ringer von Weltruhm, als gefeierten Champion der französischen Nation, als „Ringer der Extraklasse", der noch während seiner Jugendzeit zu Europas bedeutendsten Professionals aufstieg. Raoul le Boucher ist 16 Jahre alt als er 1899 erstmals die Bühne der Weltmeisterschaften in Paris betrat, um sich mit den Größen dieser Zeit zu messen. Raoul konkurrierte jetzt mit Paul Pons, mit dem Belgier Constant le Boucher oder anderen bedeutenden Ringern, die Frankreichs Hauptstadt zur Hochburg des europäischen Wrestlings nach griechisch-römischer Stilart machten. In Bezug auf die Ära vor dem Ersten Weltkrieg gingen alle wesentlichen Impulse und Entwicklungen im klassischen Stil (gr.-röm.) auf französische Ringer zurück. Auch frühe deutsche Profis wie Carl Abs lernten diese neue Form mit Vermischung aus Stand- und Bodenringkampf in Frankreichs Trainingsschulen, damals Gymnasien genannt, kennen. Bald hatte sich für diese Art des Ringens noch die Bezeichnung „französischer Stil" ausgeprägt. Vielleicht eine Hommage an die Begründer, die diese Art zu kämpfen einst im Süden der Grande Nation entwickelten und dann durch Künstlertruppen, der Kraftmenschen, Ringer, Akrobaten und Schausteller angehörten, auch nach Paris brachten. Bis zur Wende des 19. Jahrhunderts und die Jahre bis 1910 sah Frankreich bereits eine Vielzahl an ausgezeichneten Ringern kämpfen. Für Raoul le Boucher hat es nie zum Weltmeistertitel gereicht, trotzdem erlangte er einen erstaunlichen Status und Verdienst. Glaubt man den Aussagen seiner Zeitgenossen, so war er wohl einer der Spitzenverdiener in Europa. Raoul überzeugte durch Talent, Erfolg und Stärke.
[Bild: http://www.wwf4ever.de/team//Raoul le Boucher 1.jpg]
Raoul le Boucher ist nicht zu verwechseln mit seinem Landsmann und Zeitgenossen Raoul de Rouen, der später auch als Wrestler in den USA kämpfte. Er trat nie als Raoul de Rouen auf oder nahm dessen Identität bei den Turnieren an. Le Boucher war in Wirklichkeit ein Pseudonym hinter dem sich Raoul Musson verbarg. Im Januar 1883 wird Musson in Châtillon-sur-Loire geboren, einer Kleinstadt zwischen Orleans und Dijon gelegen. Während der Lehrzeit zum Schlachtmeister wird sein sportliches Talent als Ringer erkannt. Musson reist mit 14 Jahren nach Paris und wird schließlich Schüler im Ringerzirkel "Gymnase Pons". Dort entwickelte er sich zu einem der erfolgreichsten Ringer, wie Historiker Adolf von Guretzki anmerkt. Das überlieferte Gewicht und Körpermaß sind 115kg bei 1,86m. Zu Spitzenzeiten schaffte er es bis auf 130kg. Damit war Musson einer der schwersten Ringer seiner Zeit, die damals rund 90 bis 100kg auf die Waage brachten. So verwundert es dann auch nicht, dass man ihn gleich in der Schwergewichtsklasse antreten ließ. Musson debütierte unter dem Namen „Raoul le Boucher". Sein erster größerer Auftritt war bei den Weltmeisterschaften in Paris im November 1899 die in zwei Gewichtsklassen ausgetragen wurden, Leicht-und Schwergewicht. Man wählte „le Boucher" als Pseudonym in Anlehnung zu seinem erlernten Beruf, denn dieser Beiname bedeutete nichts anderes als "Metzger". Raoul war der zweite bedeutende französische Ringer mit diesem Namen nach Nicolas le Boucher, der bezeichnenderweise in dem Jahr starb, als er geboren wurde. Ein Name, den gut ein Dutzend weitere Ringer belgischer und französischer Herkunft trugen. An jenen Tagen im Casino de Paris musste Raoul wie man so schön sagt noch Lehrgeld zahlen und seinen Konkurrenten das Spielfeld überlassen. Die Weltmeisterschaften gingen Anfang Dezember 1899 gleich mit drei Siegern zu Ende: Kara Ahmed („Champion der Welt"), Laurent le Beaucairois (Schwergewicht) und Maurice Gambier (Leichtgewicht). Seine erste Platzierung erreichte Raoul am 17. August 1900 beim Turnier in Ostende (Belgien), wo er im Finale von Ladislaus Pytlasinski besiegt wurde. Der starke Russe gewann das Turnier in der Schwergewichtsklasse. Raoul wurde Zweiter sogar noch vor Aimable de la Calmette. Den ersten Turniersieg holte er sich am 03. November 1900 beim "Critérium" in Paris, das drei Tage vor Beginn der großen WM endete. An dieser sollte Raoul jedoch nicht mehr teilnehmen. Doch genau ein Jahr später stand er hier an gleicher Stelle mit auf dem Siegerpodest.
Sein Lehrgeld zahlte Raoul noch für ein paar Monate, dann kam im Jahr 1901 endlich der ersehnte Durchbruch. Man sprach schon von einem der erfolgreichsten Ringer Frankreichs. Im Januar 1901 erreichte er Platz 3 beim Turnier in Grenoble hinter Leon Dumont und Louis Walfort. Gleiches beim Turnierfinale in Dijon am 06. Februar und in Brest am 15. Februar 1901, wo er ebenfalls den dritten Platz erreichte. Die kurze Karriere des Raoul le Boucher nahm an Fahrt auf, denn bald reiste einer der Vorzeigeathleten der Grande Nation auch durch Europa. Kurz zuvor noch in Vichy angetreten, ging es jetzt auf Tournee ins Ausland. Ein Franzose gewinnt in Russland sein erstes bedeutendes Turnier war das Ergebnis vom „Championat" in Moskau im Oktober. Der junge Raoul verwies Spitzenringer wie Michael Hitzler auf Platz 2 und Gabriel Lassartesse auf Platz 3. Die wirkliche „High Society" des europäischen Wrestlings aber traf sich nach wie vor in Paris. Also musste Raoul bei der nächsten WM einfach dabei sein. Diesmal jedoch stand im Casino nicht mehr der unerfahrene Ringer von einst, sondern ein mittlerweile anerkannter Professional. Mit 18 Jahren konkurrierte Raoul mit Topstars wie George Hackenschmidt, Constant le Boucher, Michael Hitzler und Jakob Koch. All diese Größen waren dabei beim stärksten besetzten Turnier in Paris seit der ersten Weltmeisterschaft im Schwergewicht 1898. Nahezu die gesamte französische und belgische Elite samt der Teilnehmer aus Deutschland, Österreich, Italien, Dänemark, Russland und der Türkei gaben sich die Ehre. Am 18. Dezember 1901, einen Tag vor Turnierende, bezwang George Hackenschmidt nach 23 Minuten seinen Kontrahenten Raoul le Boucher. Tags darauf siegte Hackenschmidt gegen Constant le Boucher im Finale vor rund 5000 Zuschauern und wurde zum zweiten Mal Weltmeister im griechisch-römischen Stil. Constant erreichte Platz 2, Omer de Bouillon Platz 3. Raoul wurde Vierter und bekam zwei Bronzemedaillen überreicht. Erwähnung seitens der Presse fanden vor allem seine beiden Kämpfe (16. & 17.12.1901) gegen Constant Lavaux, der auch als einer der vielen „Bouchers“ groß Karriere im europäischen Wrestling machte. Jahre später hieß es Raoul hätte seinen belgischen Gegner bezwungen. Tatsächlich siegte aber Constant am 17. Dezember 1901 nach einer Kampfdauer von 75 Minuten. So endete ein aufregendes Jahr voller Turniere unter langem Beifall der Zuschauer im Casino de Paris. Spätestens jetzt hatte sich Raoul in der Szene etabliert.
[Bild: http://www.wwf4ever.de/team//Raoul le Boucher.jpg]
Raouls Karriere ging erfolgreich weiter mit Turniersiegen und Platzierungen. Hier ein Auszug seiner Laufbahn: Sieger in Dijon (Januar 1902), St. Quentin (Oktober 1903), Platz 3 in Roubaix (Februar 1902), Platz 4 in München (April 1902), Platz 4 in Lüttich / Liege (April 1902), Platz 3 beim Turnier um den Goldenen Gürtel Anfang Dezember 1902 in Paris und Platz 4 bei der Meisterschaft von Südfrankreich in Lyon ebenfalls im Dezember 1902. Gleiches für die Zeit bis zum Karriereende 1906: meistens reichte es nicht für einen Turniersieg aber für zahlreiche Platzierungen. Mit dem mehrfachen dänischen Weltmeister Jess Pedersen bestritt Raoul das WM Finale in Paris am 05. Juni 1903. Eines seiner Karriere-Highlights schlechthin, das ganze zwei Stunden und drei Minuten dauerte. Am Ende war es Pedersen der die Siegertrophäe und den WM Titel gewann, wieder gab es nur Platz 2 für Raoul. Sein Impresario Paul Pons besiegte ihn beim Turnier um den Goldenen Gürtel Ende 1903 im Pariser Theater „Folies Bergére". Raoul wurde wie sooft Drittbester hinter Pons und Pedersen. Das gleiche Szenario dann 1904 und 1905 im Folies Bergére, wo es wieder um den Goldenen Gürtel ging. Pons besiegte seinen 19 Jahre jüngeren Kontrahenten am Schlusstag dieser Ringkampf-Konkurrenzen. Dennoch konnte sich Raoul stolz bei beiden Turnieren als Zweitbester hinter Frankreichs Ringer-Ikone feiern lassen. Beide kämpften etliche Male gegeneinander, meistens hieß der Sieger dann Pons. Die Veranstalter solcher Turniere (Theaterdirektionen, Varietés und Zirkusse) waren noch an weitaus mehr Auftritten interessiert, auch außerhalb von Frankreich, wo Raoul am meisten auftrat. Die längste Phase seiner Karriere tourte er mit der Truppe um Pons durch Frankreich, Belgien und Italien. Frankreichs Ringerikone Pons wurde sein härtester Konkurrent und zugleich Förderer. Als Raouls „größter Triumph“ wurde damals der Finalkampf gegen Pons in Buenos Aires bezeichnet. Am 20. Mai 1904 startete die „Truppe Pons“ vom Hafen in Marseille in Richtung Süd Amerika. Höhepunkt war das Turnier im Casino in Buenos Aires mit Raoul, Pons, Simon Antonitch, Leon Dumont, Iwan Romanoff, Ritzner und Anastace Anglio. Ende Juli 1904 kam dann der große Finalkampf den Raoul gewinnen konnte. Zurück in Europa tourte er weiter mit seinem Impresario durch Frankreich, Italien und die Schweiz. Am meisten dabei durch Städte in Westeuropa bis hin zu den jährlichen großen Turnieren in Paris. Anfang 1906 schien sich Raouls Karriere weiter positiv zu entwickeln. Die Truppe um Pons (Raoul, Calmette, Beaucairois) tourte zu diesem Zeitpunkt durch Südfrankreich und Italien. Das Turnierfinale in Nizza gewann Raoul vor seinem Lehrmeister Pons. Bei den nächsten Turnieren in Italien konnten diese beiden Ringer-Ikonen wieder ihr Können unter Beweis stellen. Ihre „Fehde“ war der klassische Mittelpunkt zunächst beim „Großen Preis von Sizilien“ in Palermo im Februar 1906. Im Entscheidungskampf besiegte Raoul seinen Kontrahenten Pons nach 22 Minuten. Beim nachfolgenden Turnier in Neapel siegte dagegen Pons im Finale nach 48 Minuten. Seine letzte Platzierung erreichte Raoul beim Turnier in Antwerpen. Das Finale der Meisterschaft von Belgien am 19. März 1906 gewann Paul Pons gegen Raoul le Boucher. Es war sein letzter Auftritt, dann zog er sich von der Ringbühne zurück.
[Bild: http://www.wwf4ever.de/team//Raoul le Boucher 2.jpg]
Bereits diese paar Jahre haben offensichtlich für ein hohes Auskommen gesorgt, wie das Hamburger Fremdenblatt am 01. November 1906 vermeldete: „Der bekannte französische Ringkämpfer Raoul le Boucher hat sich vorläufig zur Ruhe gesetzt und bei Maisons-Laffitte ein veritables Schloß erworben, daß von einem mehrere Kilometer großen Park eingeschlossen wird". Raouls Zeitgenossen berichteten öfters von einem „veritablen" oder „hohen" Verdienst während seiner kurzen Karriere im Vergleich zu späteren Professionals. Selbst für ein Auto hatte er noch Geld übrig und fuhr damit nach Paris. Doch bei der Dauer seiner Laufbahn war Raoul damals kein Einzelfall. Es gab nur wenige Profis ergo Berufsringer in Europa vor dem Ersten Weltkrieg, die länger als 10 Jahre konstant dem Business treu blieben oder gar einen längeren Push erhielten. Unlängst hinzu kam noch die Tatsache, dass Paris seinen Status als Ringer-Hochburg nach 1910 einbüßte. Die großen Turniere, stellenweise bis zu drei pro Jahr alleine nur in Paris, konzentrierten sich jetzt auf andere Städte wie St. Petersburg, Moskau, Hamburg, Wien, Breslau (Wroclaw) und Berlin. Europaweit, mit Ausnahme von England, dominierte der griechisch-römische Stil den Profiringkampf bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Raoul le Boucher ist einer seiner frühesten und bekanntesten Vertreter gewesen. Seit seinen letzten Auftritten Anfang des Jahres 1906 hatte sich Raoul aus dem Ringkampf zurückgezogen, als die Athletik-Zeitungen im Dezember eine unerwartete Herausforderung an den mehrfachen Weltmeister Ivan Poddubny veröffentlichten. Absender war der einst so bekannte und „reiche" Raoul le Boucher aus Frankreich. Ganz vergessen hatte man ihn offenbar nicht, wenn selbst die Allgemeine Sportzeitung Wien dieser Tage von einem der besten französischen Berufsringer schrieb. Diese Zeitung war damals das wichtigste und einflussreichste Publikationsorgan für den europäischen Ringkampf in der Ära vor dem Ersten Weltkrieg. Es hätte wohl ein spannender Kampf mit dem starken Poddubny werden können, doch der Herausforderer erkrankte an einer schweren Bronchitis. Am Abend des 13. Februar 1907 starb Raoul le Boucher im Alter von nur 24 Jahren in Nizza. Mit seinem Tod verlor der Ringkampf in Europa einen seiner größten Vorzeigeathleten des frühen 20. Jahrhunderts. Seine Frau, eine Amerikanerin, erbte das Anwesen nebst Schloss bei Maisons-Laffitte. Wie bekannt er selbst noch Jahre später war, zeigte eine Auktion in Paris im Januar 1911 bei der die Erben eines seiner angehäuften Reichtümer versteigern ließen. Unter dem Hammer kam das seit vier Jahren ungenutzte Automobil des „so berühmt gewordenen Ringkämpfers" Raoul le Boucher, wie eine österreichische Zeitung titelte. Vielleicht hat es seinem neuen Besitzer auch Glück und Reichtum gebracht.
Raoul le Boucher - Turnierstatistik
Turniersiege:
Oktober-November 1900 / Paris
Oktober 1901 / Moskau
Dezember 1901 / Troyes (Frankreich)
Januar 1902 / Dijon
Oktober 1903 / Chateau Gayant (Frankreich)
Oktober 1903 / St. Quentin (Frankreich)
Juli 1904 / Buenos Aires
Januar 1906 / Nizza
Februar 1906 / Palermo
Platz 2:
Januar 1900 / Antwerpen
August 1900 / Ostende (Belgien)
Mai-Juni 1903 / Paris
Juli 1903 / Brüssel
November 1903 / Antwerpen
Dezember 1903 / La Réole (Frankreich)
März 1904 / Nizza
Oktober-November 1904 / Genf
November 1904 / Antwerpen
Dezember 1904 / Paris
Dezember 1904 / Rouen
April 1905 / Mailand
November-Dezember 1905 / Paris
Februar 1906 / Neapel
März 1906 / Antwerpen
größte Kämpfe gegen:
Paul Pons
Jess Pedersen
Turniere mit Raoul le Boucher:
November-Dezember 1899 / Paris
August 1899 / Namur (Belgien)
August 1900 / Ostende (Belgien)
Oktober-November 1900 / Paris
Januar 1900 / Antwerpen
Januar 1901 / Grenoble
Januar-Februar 1901 / Dijon
Februar 1901 / Brest
August 1901 / Vichy
Oktober 1901 / Moskau
November-Dezember 1901 / Paris
Dezember 1901 / Reims
Dezember 1901 / Troyes (Frankreich)
Januar 1902 / Dijon
Januar 1902 / Lyon
Februar 1902 / Lille
Februar 1902 / Roubaix (Frankreich)
April 1902 / München
April 1902 / Lüttich (Liege)
Juli 1902 / Antwerpen
September 1902 / Orleans (Frankreich)
September 1902 / Bordeaux
Oktober 1902 / Paris
November-Dezember 1902 / Paris
Dezember 1902 / Lyon
Januar 1903 / Toulon
Februar 1903 / Nizza
März 1903 / Montlucon (Frankreich)
März 1903 / Lyon
April 1903 / Dijon
Mai-Juni 1903 / Paris
Juni 1903 / Charleroi (Belgien)
Juli 1903 / Brüssel
Oktober 1903 / Chimay (Belgien)
Oktober 1903 / Chateau Gayant (France)
Oktober 1903 / St. Quentin (Frankreich)
November 1903 / Antwerpen
Dezember 1903 / La Réole (Frankreich)
Dezember 1903 - Januar 1904 / Paris
Januar 1904 / Edinburgh
Februar-März 1904 / Lüttich (Liege)
März 1904 / Nizza
April 1904 / St. Petersburg
April 1904 / Marseille
Juli 1904 / Buenos Aires
Oktober-November 1904 / Genf
November 1904 / Antwerpen
Dezember 1904 / Paris
Dezember 1904 / Rouen
April 1905 / Mailand
Januar 1906 / Nizza
Februar 1906 / Palermo
Februar 1906 / Neapel
März 1906 / Antwerpen
Man sah ihn als Ringer von Weltruhm, als gefeierten Champion der französischen Nation, als „Ringer der Extraklasse", der noch während seiner Jugendzeit zu Europas bedeutendsten Professionals aufstieg. Raoul le Boucher ist 16 Jahre alt als er 1899 erstmals die Bühne der Weltmeisterschaften in Paris betrat, um sich mit den Größen dieser Zeit zu messen. Raoul konkurrierte jetzt mit Paul Pons, mit dem Belgier Constant le Boucher oder anderen bedeutenden Ringern, die Frankreichs Hauptstadt zur Hochburg des europäischen Wrestlings nach griechisch-römischer Stilart machten. In Bezug auf die Ära vor dem Ersten Weltkrieg gingen alle wesentlichen Impulse und Entwicklungen im klassischen Stil (gr.-röm.) auf französische Ringer zurück. Auch frühe deutsche Profis wie Carl Abs lernten diese neue Form mit Vermischung aus Stand- und Bodenringkampf in Frankreichs Trainingsschulen, damals Gymnasien genannt, kennen. Bald hatte sich für diese Art des Ringens noch die Bezeichnung „französischer Stil" ausgeprägt. Vielleicht eine Hommage an die Begründer, die diese Art zu kämpfen einst im Süden der Grande Nation entwickelten und dann durch Künstlertruppen, der Kraftmenschen, Ringer, Akrobaten und Schausteller angehörten, auch nach Paris brachten. Bis zur Wende des 19. Jahrhunderts und die Jahre bis 1910 sah Frankreich bereits eine Vielzahl an ausgezeichneten Ringern kämpfen. Für Raoul le Boucher hat es nie zum Weltmeistertitel gereicht, trotzdem erlangte er einen erstaunlichen Status und Verdienst. Glaubt man den Aussagen seiner Zeitgenossen, so war er wohl einer der Spitzenverdiener in Europa. Raoul überzeugte durch Talent, Erfolg und Stärke.
[Bild: http://www.wwf4ever.de/team//Raoul le Boucher 1.jpg]
Raoul le Boucher ist nicht zu verwechseln mit seinem Landsmann und Zeitgenossen Raoul de Rouen, der später auch als Wrestler in den USA kämpfte. Er trat nie als Raoul de Rouen auf oder nahm dessen Identität bei den Turnieren an. Le Boucher war in Wirklichkeit ein Pseudonym hinter dem sich Raoul Musson verbarg. Im Januar 1883 wird Musson in Châtillon-sur-Loire geboren, einer Kleinstadt zwischen Orleans und Dijon gelegen. Während der Lehrzeit zum Schlachtmeister wird sein sportliches Talent als Ringer erkannt. Musson reist mit 14 Jahren nach Paris und wird schließlich Schüler im Ringerzirkel "Gymnase Pons". Dort entwickelte er sich zu einem der erfolgreichsten Ringer, wie Historiker Adolf von Guretzki anmerkt. Das überlieferte Gewicht und Körpermaß sind 115kg bei 1,86m. Zu Spitzenzeiten schaffte er es bis auf 130kg. Damit war Musson einer der schwersten Ringer seiner Zeit, die damals rund 90 bis 100kg auf die Waage brachten. So verwundert es dann auch nicht, dass man ihn gleich in der Schwergewichtsklasse antreten ließ. Musson debütierte unter dem Namen „Raoul le Boucher". Sein erster größerer Auftritt war bei den Weltmeisterschaften in Paris im November 1899 die in zwei Gewichtsklassen ausgetragen wurden, Leicht-und Schwergewicht. Man wählte „le Boucher" als Pseudonym in Anlehnung zu seinem erlernten Beruf, denn dieser Beiname bedeutete nichts anderes als "Metzger". Raoul war der zweite bedeutende französische Ringer mit diesem Namen nach Nicolas le Boucher, der bezeichnenderweise in dem Jahr starb, als er geboren wurde. Ein Name, den gut ein Dutzend weitere Ringer belgischer und französischer Herkunft trugen. An jenen Tagen im Casino de Paris musste Raoul wie man so schön sagt noch Lehrgeld zahlen und seinen Konkurrenten das Spielfeld überlassen. Die Weltmeisterschaften gingen Anfang Dezember 1899 gleich mit drei Siegern zu Ende: Kara Ahmed („Champion der Welt"), Laurent le Beaucairois (Schwergewicht) und Maurice Gambier (Leichtgewicht). Seine erste Platzierung erreichte Raoul am 17. August 1900 beim Turnier in Ostende (Belgien), wo er im Finale von Ladislaus Pytlasinski besiegt wurde. Der starke Russe gewann das Turnier in der Schwergewichtsklasse. Raoul wurde Zweiter sogar noch vor Aimable de la Calmette. Den ersten Turniersieg holte er sich am 03. November 1900 beim "Critérium" in Paris, das drei Tage vor Beginn der großen WM endete. An dieser sollte Raoul jedoch nicht mehr teilnehmen. Doch genau ein Jahr später stand er hier an gleicher Stelle mit auf dem Siegerpodest.
Sein Lehrgeld zahlte Raoul noch für ein paar Monate, dann kam im Jahr 1901 endlich der ersehnte Durchbruch. Man sprach schon von einem der erfolgreichsten Ringer Frankreichs. Im Januar 1901 erreichte er Platz 3 beim Turnier in Grenoble hinter Leon Dumont und Louis Walfort. Gleiches beim Turnierfinale in Dijon am 06. Februar und in Brest am 15. Februar 1901, wo er ebenfalls den dritten Platz erreichte. Die kurze Karriere des Raoul le Boucher nahm an Fahrt auf, denn bald reiste einer der Vorzeigeathleten der Grande Nation auch durch Europa. Kurz zuvor noch in Vichy angetreten, ging es jetzt auf Tournee ins Ausland. Ein Franzose gewinnt in Russland sein erstes bedeutendes Turnier war das Ergebnis vom „Championat" in Moskau im Oktober. Der junge Raoul verwies Spitzenringer wie Michael Hitzler auf Platz 2 und Gabriel Lassartesse auf Platz 3. Die wirkliche „High Society" des europäischen Wrestlings aber traf sich nach wie vor in Paris. Also musste Raoul bei der nächsten WM einfach dabei sein. Diesmal jedoch stand im Casino nicht mehr der unerfahrene Ringer von einst, sondern ein mittlerweile anerkannter Professional. Mit 18 Jahren konkurrierte Raoul mit Topstars wie George Hackenschmidt, Constant le Boucher, Michael Hitzler und Jakob Koch. All diese Größen waren dabei beim stärksten besetzten Turnier in Paris seit der ersten Weltmeisterschaft im Schwergewicht 1898. Nahezu die gesamte französische und belgische Elite samt der Teilnehmer aus Deutschland, Österreich, Italien, Dänemark, Russland und der Türkei gaben sich die Ehre. Am 18. Dezember 1901, einen Tag vor Turnierende, bezwang George Hackenschmidt nach 23 Minuten seinen Kontrahenten Raoul le Boucher. Tags darauf siegte Hackenschmidt gegen Constant le Boucher im Finale vor rund 5000 Zuschauern und wurde zum zweiten Mal Weltmeister im griechisch-römischen Stil. Constant erreichte Platz 2, Omer de Bouillon Platz 3. Raoul wurde Vierter und bekam zwei Bronzemedaillen überreicht. Erwähnung seitens der Presse fanden vor allem seine beiden Kämpfe (16. & 17.12.1901) gegen Constant Lavaux, der auch als einer der vielen „Bouchers“ groß Karriere im europäischen Wrestling machte. Jahre später hieß es Raoul hätte seinen belgischen Gegner bezwungen. Tatsächlich siegte aber Constant am 17. Dezember 1901 nach einer Kampfdauer von 75 Minuten. So endete ein aufregendes Jahr voller Turniere unter langem Beifall der Zuschauer im Casino de Paris. Spätestens jetzt hatte sich Raoul in der Szene etabliert.
[Bild: http://www.wwf4ever.de/team//Raoul le Boucher.jpg]
Raouls Karriere ging erfolgreich weiter mit Turniersiegen und Platzierungen. Hier ein Auszug seiner Laufbahn: Sieger in Dijon (Januar 1902), St. Quentin (Oktober 1903), Platz 3 in Roubaix (Februar 1902), Platz 4 in München (April 1902), Platz 4 in Lüttich / Liege (April 1902), Platz 3 beim Turnier um den Goldenen Gürtel Anfang Dezember 1902 in Paris und Platz 4 bei der Meisterschaft von Südfrankreich in Lyon ebenfalls im Dezember 1902. Gleiches für die Zeit bis zum Karriereende 1906: meistens reichte es nicht für einen Turniersieg aber für zahlreiche Platzierungen. Mit dem mehrfachen dänischen Weltmeister Jess Pedersen bestritt Raoul das WM Finale in Paris am 05. Juni 1903. Eines seiner Karriere-Highlights schlechthin, das ganze zwei Stunden und drei Minuten dauerte. Am Ende war es Pedersen der die Siegertrophäe und den WM Titel gewann, wieder gab es nur Platz 2 für Raoul. Sein Impresario Paul Pons besiegte ihn beim Turnier um den Goldenen Gürtel Ende 1903 im Pariser Theater „Folies Bergére". Raoul wurde wie sooft Drittbester hinter Pons und Pedersen. Das gleiche Szenario dann 1904 und 1905 im Folies Bergére, wo es wieder um den Goldenen Gürtel ging. Pons besiegte seinen 19 Jahre jüngeren Kontrahenten am Schlusstag dieser Ringkampf-Konkurrenzen. Dennoch konnte sich Raoul stolz bei beiden Turnieren als Zweitbester hinter Frankreichs Ringer-Ikone feiern lassen. Beide kämpften etliche Male gegeneinander, meistens hieß der Sieger dann Pons. Die Veranstalter solcher Turniere (Theaterdirektionen, Varietés und Zirkusse) waren noch an weitaus mehr Auftritten interessiert, auch außerhalb von Frankreich, wo Raoul am meisten auftrat. Die längste Phase seiner Karriere tourte er mit der Truppe um Pons durch Frankreich, Belgien und Italien. Frankreichs Ringerikone Pons wurde sein härtester Konkurrent und zugleich Förderer. Als Raouls „größter Triumph“ wurde damals der Finalkampf gegen Pons in Buenos Aires bezeichnet. Am 20. Mai 1904 startete die „Truppe Pons“ vom Hafen in Marseille in Richtung Süd Amerika. Höhepunkt war das Turnier im Casino in Buenos Aires mit Raoul, Pons, Simon Antonitch, Leon Dumont, Iwan Romanoff, Ritzner und Anastace Anglio. Ende Juli 1904 kam dann der große Finalkampf den Raoul gewinnen konnte. Zurück in Europa tourte er weiter mit seinem Impresario durch Frankreich, Italien und die Schweiz. Am meisten dabei durch Städte in Westeuropa bis hin zu den jährlichen großen Turnieren in Paris. Anfang 1906 schien sich Raouls Karriere weiter positiv zu entwickeln. Die Truppe um Pons (Raoul, Calmette, Beaucairois) tourte zu diesem Zeitpunkt durch Südfrankreich und Italien. Das Turnierfinale in Nizza gewann Raoul vor seinem Lehrmeister Pons. Bei den nächsten Turnieren in Italien konnten diese beiden Ringer-Ikonen wieder ihr Können unter Beweis stellen. Ihre „Fehde“ war der klassische Mittelpunkt zunächst beim „Großen Preis von Sizilien“ in Palermo im Februar 1906. Im Entscheidungskampf besiegte Raoul seinen Kontrahenten Pons nach 22 Minuten. Beim nachfolgenden Turnier in Neapel siegte dagegen Pons im Finale nach 48 Minuten. Seine letzte Platzierung erreichte Raoul beim Turnier in Antwerpen. Das Finale der Meisterschaft von Belgien am 19. März 1906 gewann Paul Pons gegen Raoul le Boucher. Es war sein letzter Auftritt, dann zog er sich von der Ringbühne zurück.
[Bild: http://www.wwf4ever.de/team//Raoul le Boucher 2.jpg]
Bereits diese paar Jahre haben offensichtlich für ein hohes Auskommen gesorgt, wie das Hamburger Fremdenblatt am 01. November 1906 vermeldete: „Der bekannte französische Ringkämpfer Raoul le Boucher hat sich vorläufig zur Ruhe gesetzt und bei Maisons-Laffitte ein veritables Schloß erworben, daß von einem mehrere Kilometer großen Park eingeschlossen wird". Raouls Zeitgenossen berichteten öfters von einem „veritablen" oder „hohen" Verdienst während seiner kurzen Karriere im Vergleich zu späteren Professionals. Selbst für ein Auto hatte er noch Geld übrig und fuhr damit nach Paris. Doch bei der Dauer seiner Laufbahn war Raoul damals kein Einzelfall. Es gab nur wenige Profis ergo Berufsringer in Europa vor dem Ersten Weltkrieg, die länger als 10 Jahre konstant dem Business treu blieben oder gar einen längeren Push erhielten. Unlängst hinzu kam noch die Tatsache, dass Paris seinen Status als Ringer-Hochburg nach 1910 einbüßte. Die großen Turniere, stellenweise bis zu drei pro Jahr alleine nur in Paris, konzentrierten sich jetzt auf andere Städte wie St. Petersburg, Moskau, Hamburg, Wien, Breslau (Wroclaw) und Berlin. Europaweit, mit Ausnahme von England, dominierte der griechisch-römische Stil den Profiringkampf bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Raoul le Boucher ist einer seiner frühesten und bekanntesten Vertreter gewesen. Seit seinen letzten Auftritten Anfang des Jahres 1906 hatte sich Raoul aus dem Ringkampf zurückgezogen, als die Athletik-Zeitungen im Dezember eine unerwartete Herausforderung an den mehrfachen Weltmeister Ivan Poddubny veröffentlichten. Absender war der einst so bekannte und „reiche" Raoul le Boucher aus Frankreich. Ganz vergessen hatte man ihn offenbar nicht, wenn selbst die Allgemeine Sportzeitung Wien dieser Tage von einem der besten französischen Berufsringer schrieb. Diese Zeitung war damals das wichtigste und einflussreichste Publikationsorgan für den europäischen Ringkampf in der Ära vor dem Ersten Weltkrieg. Es hätte wohl ein spannender Kampf mit dem starken Poddubny werden können, doch der Herausforderer erkrankte an einer schweren Bronchitis. Am Abend des 13. Februar 1907 starb Raoul le Boucher im Alter von nur 24 Jahren in Nizza. Mit seinem Tod verlor der Ringkampf in Europa einen seiner größten Vorzeigeathleten des frühen 20. Jahrhunderts. Seine Frau, eine Amerikanerin, erbte das Anwesen nebst Schloss bei Maisons-Laffitte. Wie bekannt er selbst noch Jahre später war, zeigte eine Auktion in Paris im Januar 1911 bei der die Erben eines seiner angehäuften Reichtümer versteigern ließen. Unter dem Hammer kam das seit vier Jahren ungenutzte Automobil des „so berühmt gewordenen Ringkämpfers" Raoul le Boucher, wie eine österreichische Zeitung titelte. Vielleicht hat es seinem neuen Besitzer auch Glück und Reichtum gebracht.
Raoul le Boucher - Turnierstatistik
Turniersiege:
Oktober-November 1900 / Paris
Oktober 1901 / Moskau
Dezember 1901 / Troyes (Frankreich)
Januar 1902 / Dijon
Oktober 1903 / Chateau Gayant (Frankreich)
Oktober 1903 / St. Quentin (Frankreich)
Juli 1904 / Buenos Aires
Januar 1906 / Nizza
Februar 1906 / Palermo
Platz 2:
Januar 1900 / Antwerpen
August 1900 / Ostende (Belgien)
Mai-Juni 1903 / Paris
Juli 1903 / Brüssel
November 1903 / Antwerpen
Dezember 1903 / La Réole (Frankreich)
März 1904 / Nizza
Oktober-November 1904 / Genf
November 1904 / Antwerpen
Dezember 1904 / Paris
Dezember 1904 / Rouen
April 1905 / Mailand
November-Dezember 1905 / Paris
Februar 1906 / Neapel
März 1906 / Antwerpen
größte Kämpfe gegen:
Paul Pons
Jess Pedersen
Turniere mit Raoul le Boucher:
November-Dezember 1899 / Paris
August 1899 / Namur (Belgien)
August 1900 / Ostende (Belgien)
Oktober-November 1900 / Paris
Januar 1900 / Antwerpen
Januar 1901 / Grenoble
Januar-Februar 1901 / Dijon
Februar 1901 / Brest
August 1901 / Vichy
Oktober 1901 / Moskau
November-Dezember 1901 / Paris
Dezember 1901 / Reims
Dezember 1901 / Troyes (Frankreich)
Januar 1902 / Dijon
Januar 1902 / Lyon
Februar 1902 / Lille
Februar 1902 / Roubaix (Frankreich)
April 1902 / München
April 1902 / Lüttich (Liege)
Juli 1902 / Antwerpen
September 1902 / Orleans (Frankreich)
September 1902 / Bordeaux
Oktober 1902 / Paris
November-Dezember 1902 / Paris
Dezember 1902 / Lyon
Januar 1903 / Toulon
Februar 1903 / Nizza
März 1903 / Montlucon (Frankreich)
März 1903 / Lyon
April 1903 / Dijon
Mai-Juni 1903 / Paris
Juni 1903 / Charleroi (Belgien)
Juli 1903 / Brüssel
Oktober 1903 / Chimay (Belgien)
Oktober 1903 / Chateau Gayant (France)
Oktober 1903 / St. Quentin (Frankreich)
November 1903 / Antwerpen
Dezember 1903 / La Réole (Frankreich)
Dezember 1903 - Januar 1904 / Paris
Januar 1904 / Edinburgh
Februar-März 1904 / Lüttich (Liege)
März 1904 / Nizza
April 1904 / St. Petersburg
April 1904 / Marseille
Juli 1904 / Buenos Aires
Oktober-November 1904 / Genf
November 1904 / Antwerpen
Dezember 1904 / Paris
Dezember 1904 / Rouen
April 1905 / Mailand
Januar 1906 / Nizza
Februar 1906 / Palermo
Februar 1906 / Neapel
März 1906 / Antwerpen